Mein Lieblingsplatz: Untere Hemerach Alm
Steffi Falkner
Die heile Welt – eine Utopie? Doch, es gibt sie. Ziemlich versteckt, vollkommen unberührt und unfassbar schön. Ein Juwel mitten im Wald, ein Wolkenkuckucksheim abseits jeglicher Zivilisation. Ein Platz, der sonst nur in Märchenbüchern vorkommt und mit uralten, buckligen Hütten, einem Holztrog, in den quellfrisches Wasser sprudelt und Rehen, die bei Glück auf der ungemähten Lichtung äsen.
Doch vor das Paradies haben die Götter den Schweiß gesetzt. Recht steil geht es erstmal durch den dichten Nadelwald bergauf. Immerhin wurden Stufen in den Steig eingesetzt, so dass er zwar mit einiger Anstrengung aber ohne jede Gefahr zu bewältigen ist. Irgendwann hat auch diese „Himmelsleiter“ ein Ende und mündet in einen waagerechten Weg Richtung Süden. Gerade lang genug, um wieder zu Atem zu kommen, bevor man erneut nach Luft schnappt - diesmal vor Überraschung.
"Fata Morgana aus Sehnsucht geformt..."
Man reibt sich die Augen und glaubt an eine Fata Morgana. An eine Täuschung, aus Sehnsucht geformt. Zu perfekt ist das Bild, zu oft hat man es in seinen Träumen gesehen. Denn vor uns öffnet sich eine Lichtung, die auf den ersten Blick suggeriert, dass vor uns nie ein Mensch sie je betreten hat. Nur ein Tannenhäher warnt vor unserem Besuch. Zwei Fußballfelder groß ist die untere Hemerach Alm etwa, sanft fällt sie nach unten ab. Hellgrün leuchtet sie im Frühling, buntbetupft zeigt sie sich im Sommer und mit einem roten Schimmer im Herbst von Heidekraut und verfärbten Blaubeer- und Preiselbeerstauden. Mit der Farbe wechselt auch der Duft des Waldes, besonders im Spätsommer, wenn Beeren und Pilze pflückreif fast in den Mund wachsen. Eine Schutzhütte aus dunklen Balken steht für jeden offen, der hier rasten oder über Nacht bleiben möchte, um einen kristallklaren Morgen zu erleben.
"Wahrer Reichtum in der Schlichtheit..."
Auch auf einer darunter liegenden Lichtung stehen Thayen, wie Almhütten in Tirol genannt werden. Hirten haben sie vor ein paar hundert Jahren gebaut, um bei Wind und Wetter Unterschlupf zu finden. Jetzt werden sie von Ötztalern genutzt, um für ein paar freie Tage eine Auszeit vom Alltag zu genießen.
Auch die Familie Falkner hat eine Hütte gepachtet, geht mit den ersten Sternen schlafen und wacht mit dem frühen Zwitschern der Vögel auf.
„Den wahren Reichtum suche ich in der Schlichtheit“, bekennt die Saarländerin, die seit Ende der 90er Jahre in Niederthai lebt. Der Liebe wegen. Zu ihrem späteren Mann Peter und zu dem Ort, in dem sie genau jenes Lebensgefühl fand, nach dem sie immer gesucht hatte.
„Den Wandersteig bin ich noch hochschwanger gelaufen, dann mit unserem Sohn Luis zum Wärmen an meinen Körper gebunden und später in der Kraxe auf dem Rücken getragen. Inzwischen entwickelt er dort oben sehr viel Phantasie beim Spielen in und mit der Natur.“ Auch andere Kinder führt Steffi auf die untere Hemerach Alm. Die Mädchen binden dort oben Blumenkränze, die Jungs sammeln Käfer, schnitzen mit ihren ersten Taschenmessern ganz stolz Pilze aus Holz und bauen Höhlen aus Zweigen. Fertigkeiten, die selbst in den Bergregionen längst nicht mehr in Mode sind.
"Wasser wie Champagner..."
Aus einem Bergbach plätschert ein Wasserstrahl, in einen Holztrog mitten auf der Lichtung geleitet. Wie Champagner schmeckt das Wasser, geschöpft mit hohler Hand und mit Andacht getrunken. Unter dem Brunnen liegen ein paar Steine, auf denen sich das überlaufende Wasser sammelt. Wir ziehen die Wanderschuhe aus und waten als Kurz-Kneippkur durch den eiskalten Miniteich. Nach der ersten Überwindung explodieren tausend kleine Funken in den Füßen, steigen auf und breiten sich im ganzen Körper aus.
„Auf die Hemerach Alm steige ich, wenn es mir gut geht, aber auch, wenn es mir gerade nicht so gut geht,“ sagt Steffi. „Andere flüchten bei schlechten Nachrichten vielleicht in eine Bar oder reagieren sich im Fitness-Studio ab. Ich wandere einfach auf die Alm und bekomme schon nach der ersten Wegkehre eine andere Perspektive zum Leben im Tal. Und wenn sich der Wald dann zur Lichtung hin öffnet, öffnet sich auch meine Seele.“